Tempusbildung

1.

Die Flexion der Zeit kann grundsätzlich auf 2 verschiedene Arten geschehen:

a. entweder durch eine Veränderung des Wortes erfolgen

  • Diese kann in einer inneren Veränderung (geben - er gab)
  • oder in einer äußeren Veränderung des Wortstamms bestehen (lieb > liebt, ich lieb-e, ich liebt-e)

b. oder durch ein Hilfsverb erfolgen

(geben, er hat gegeben, er hatte gegeben, er wird geben)

Im Deutschen und den verwandten germanischen Sprachen sowie im Slawischen und im Keltischen gibt es nur 2 einfache Zeitformen (also die vorstehende 1. Möglichkeit):
Das Präsens (die Gegenwart) und das Präteritum (Vergangenheit). Sämtliche anderen Zeitformen müssen mit Hilfsverben gebildet werden.

(Im Süddeutschen ist auch das Präteritum ausgestorben, so daß lediglich das Präsens als einfache Zeitform übrig bleibt.)

2.

Die Verwendung von Hilfverben ist alltäglich und üblich und für die analytischen (isolierenden) Sprachen wie deutsch, Französisch, usw. geradezu bezeichnend.

Historisch sind die Flexionen oft sogar aus Hilfsverben entstanden. Manchmal ist die Entstehung einer Zeitform aus einem Hilfsverb noch zu erkennen.

Hierzu ein m.E. sehr schönes Beispiel:

Das lateinische Futur verschwand in der Zeit des römischen Kaiserreichs (also schon relativ früh) aus dem Gebrauch. An seine Stelle trat eine Ausdrucksform, die uns gut bekannt ist, ohne daß wir uns vielleicht bislang Gedanken hierüber gemacht haben: Die Umschreibung mit “haben” :

Statt das Futur zu benutzen: “Ich werde noch arbeiten”,
kann man auch sagen: “Ich habe noch zu arbeiten.“

Ãhnlich drückte sich der Kirchvater Augustinus im 1. Jhdt. n. Chr. aus, indem er vom kommenden Reich Gottes schreibt:

“Petant aut non petant, venire habet”
(“Ob sie bitten oder nicht bitten, es (das Reich Gottes) wird kommen”)

Die Verbindung eines Verbs (im vorstehenden Beispiel: kommen = venire) mit dem indogermanischen Wort für “haben“ (habere im Latein) hat sich in den römischen Tochtersprachen Französisch und Italienisch als Futur durchgesetzt, nachdem eine Verschmelzung stattgefunden hatte.

Diese Verschmelzung ist gut zu erkennen, wenn man die Präsensform des französischen Worts für haben (vgl. oben: avoir) mit den Formen des Futurs vergleicht und an den Infinitiv des anderen Wortes anhängt.

Präsens von haben (= avoir)  +  Infinitiv des Verbs =  Futur des Verbs
Präsens von haben Infinitiv d. Verb Infinitiv + Präs. von haben = Futur
ich habe j’ai aimer aimer + ai = aimerai
du hast tu as aimer aimer + as = aimeras
er hat il a aimer aimer + a = aimera
wir haben nous avons aimer aimer + (av)ons = aimerons
ihr habt vous avez aimer aimer + (av)ez = aimerez
sie haben ils ont aimer aimer + ont = aimeront

Es stimmt selbst in der deutschen Übersetzung fast wörtlich:

Je travailler-ai: Ich habe (zu) arbeiten = Ich werde arbeiten

In den anderen romanischen Sprachen ist die Futurbildung ähnlich:

Ital.: amer-ò, amer-ai; Span.: amar-é, amar-ás,usw.