Rekonstruktion

Derartige Aufzeichnungen können z.B. Hieroglyphen auf Tempelsäulen oder Keilschriften auf Felswänden, Tontafeln, usw. sein. Schriftliche Zeugnisse liegen jedoch nur für die Zeit bis etwa 3.000 vor Chr. vor, wobei man bei vielen dieser alten Schriftzeichen zudem oft nicht weiß (oder nicht hinreichend genau weiß), wie die dazugehörige Sprache ausgesprochen wurde.

Die Wissenschaft hat nun verschiedene Methoden entwickelt, um Worte und Sprachen rekonstruieren zu können, die noch weiter in die Vergangenheit liegen, und für solche (jüngeren) Sprachen, für die keine schriftlichen oder sonstigen Zeugnisse vorliegen.

Methoden

Die Wichtigsten sind die vergleichende, also komparative Methode sowie die Gesetze über die Lautverschiebung (Grimm’sche und Vernersche Gesetze) . In den letzten Jahren sind unter Einbeziehung der technischen und naturwissenschafflichen Erkenntnisse noch moderne genetische Methoden hingekommen.

  1. Die vergleichende Methode geht von der Überlegung aus, daß Sprachen, die einen ähnlichen Wortschatz und eine ähnliche Struktur haben, miteinander verwandt sein müssen, also gemeinsame Ursprünge haben müssen.

  2. Die Gesetze über die Lautverschiebung beruhen auf der Erkenntnis, daß sich die Laute verwandter Sprachen unter bestimmten Bedingungen entsprechen und sich auf vorhersehbare Weise entwickeln (Grimm’sches Gesetz und Verner’sches Gesetz).

  3. Neuere moderne genetische Techniken unterstützen und ergänzen diese hergebrachten Methoden.

Gliederung in Centum- / Satem-Sprachen

Gemäß einem solchen von der Linguistik erkannten Muster entwickelten sich in einigen indogermanischen Unterfamilien die für das Protoindogermanische vermuteten k-Laute zu Zischlauten wie s (ähnlich dem sch).

Gebräuchlichstes Beispiel für dieses Muster ist das altiranische Wort satem  für die Zahl „100” gegenüber dem lateinischen centum („kentum” ausgesprochen).

Dies betraf vor allem die östlichen Zweige, also die indoiranischen Sprachen, aber auch europäische Sprachen, wie Albanisch, Armenisch und Slawisch.

Während in älteren Untersuchungen die verschiedenen indogermanischen Sprachen deshalb einem westlichen (centum) oder einem östlichen (satem) Zweig zugerechnet wurden, wird die indogermanische Sprachfamilie in der modernen Sprachwissenschaft nicht mehr automatisch in zwei Zweige geteilt.

Zum einen, um der Annahme, die Familie sei frühzeitig in zwei Hauptzweige aufgespalten worden, keinen Vorschub zu leisten. Zum anderen sollte dieser Lautverschiebung von k zu s keine allzu übermächtige Bedeutung beigemessen werden, da es sich dabei zwar um ein wichtiges, jedoch nur um eines von mehreren Phänomenen handelt, die mehrere Unterfamilien zugleich betreffen.

Quantitative Untersuchungen

 Mit den Methoden der Sprachvergleichung kann man - richtig angewandt - nicht nur nachweisen, daß Sprachen miteinander verwandt sind, sondern auch quantitativ angeben, wie nah oder entfernt diese Verwandtschaft ist, also wann die Abtrennung der Sprachen voneinander erfolgt ist. Hiermit beschäftigt sich die Glottochronologie, ein Sonderzweig der Linguistik.

Man verwendet hierfür möglichst zahlreiche, sorgfältig ausgewählte Basiswörter und ermittelt, wieviele noch in den beiden zu vergleichenden Sprachen enthalten sind. Angestrebt werden, soweit noch vorhanden, mindestens etwa 2.000 Wörter, um eine nach den Grundsätzen der Statistik ausreichende Basis für diese Stichproben zu haben. Außerdem werden - soweit bekannt - etwaige phonetische Veränderungen berücksichtigt.

Bsp: Bei der (hypothetischen) Rekonstruktion des Wortes Vater würden das italienische padre und das portugiesische pai als Entsprechung für Vater bzw. als verwandt gelten, weil sich die Änderung linguistisch und auf andere Weise erklären läßt. Dagegen gibt es keine stichhaltige phonetische Beziehung zu dem Eskomo-Wort für “Vater” - ataataq. Dieses Wort ist offensichtlich nicht verwandt.

Der Glottochronologie zufolge sind 2 Sprachen umso länger voneinander getrennt (also umso entfernter verwandt), je niedriger die Zahl der Wortübereinstimmungen ausfällt. 2 Sprachen, die 60 % der Wörter gemeinsam haben, spalteten sich demnach vor längerer Zeit als 2 Sprachen, die zu 80 % übereinstimmen.

Da bei einigen Sprachen der Beginn der separaten Entwicklung bekannt ist (z.B. bei den romanischen Sprachen, die sich von der Frühzeit des Christentums an aus dem Lateinischen herausbildeten), läßt sich die Tabelle “eichen”, also quantifizieren. Von solchen Eichpunkten gibt es eine Vielzahl, z.B. die Eroberung von Mittelamerika durch die Spanier und ihr Einfluß auf die einheimischen Sprachen durch die Aufzwängung der spanischen Sprache.

Aus solchen “Eichpunkten” ergibt sich eine Korrelation zwischen dem Anteil gemeinsamer Wörter und der seit der Trennung der Sprachen verstrichenene Zeit (sog. “Zeittiefe”). So fand man heraus, daß 2 Sprachen (abhängig von der jeweiligen Sprachfamilien) nach 1.000 Jahren der Trennung im Durchschnitt noch zu 86 % übereinstimmen (dieser Wert ist bei jeder Sprachfamilie anders und muß jeweils (z.B. anhand bekannter Ereignisse) “geeicht” werden.
Glottochronologische Schätzungen der Zeittiefe von Sprachen
%-Satz der Übereinstimmung Seit der Trennung
verstrichene Jahrhunderte
% Jahrhunderte % Jahrhunderte
100 0 65 14,3 30 39,9
95 1,7 60 16,9 25 45,9
90 3,5 55 19,8 20 56,6
85 5,4 50 22,9 15 75,6
80 7,4 45 26,5 10 102,6
75 9,5 40 30,3 5 148,4
70 11,8 35 34,8 1 255,0

Nach der “Eichung” kann man dann ermitteln, zu welcher Zeit sich die Mitglieder der verschiedenen Sprachen oder Sprachfamilien ungefähr voneinander getrennt haben (Zeitpunkt der Divergenz), und einen Stammbaum  der betreffenden Sprachen erstellen.

Eine derartiger Stammbaum (der sich auf die kauskasischen Sprachen bezieht) ist hier wiedergegeben.

Wahl der Basiswörter

Von besonderer Bedeutung bei Sprachvergleichen ist die sorgfältige Auswahl der Basiswörter.

Eine der größten Schwierigkeiten in der Arbeit des Linguisten liegt darin, zuvor solche Wörter aus dem Basiswortschatz zu eleminieren, die das Ergebnis verfälschen würden, weil sie aus anderen Sprachen entlehnt sind und somit nicht zu dem ursprünglichen Wortschatz gehören, um den es geht. Häufig sind Lehnwörter als solche kaum noch zu erkennen, weil sie sich (obwohl urspünglich Fremdwörter, dann mit der Zeit Lehnwörter) völlig in den Wortschatz integriert haben.

Die sorgfältige Auswahl der Basiswörter ist daher für den Erfolg entscheidend. Zu den häufig gewählten Basiswörtern gehören vor allem Begriffe, die Teile des menschlichen Körpers bezeichnen. Diese sind gegen Wortersetzungen aus anderen Sprachen relativ resistent.

Sehr oft werden dagegen Begriffe in die eigene Sprache aufgenommen, die neue Gegenstände, Techniken, Vorgänge, usw. beschreiben. Hier wird mit dem Gegenstand häufig (sogar überwiegend) auch sein Name übernommen. -

So heißen beispielsweise Whisky, Scotch und Jeans auf der ganzen Welt gleich. Hier wurde (ganz typisch) zusammen mit dem Produkt auch dessen Name mit übernommen (sehr häufig aus dem Englischen)

Typische Beispiele hierfür aus der Gegenwart sind ferner die englischen Begriffe im Zusammenhang mit Computer, Pop-Musik, usw, die zusammen mit ihren englischen Bezeichnungen nach Deutschland (und allgemein in die nicht englisch-sprachigen Länder) gekommen sind.

Ein anderes Beispiel hierfür ist die Bezeichnung für “Tomaten”. Mit der in Mexiko heimischen Frucht wurde auch der aus dem Nahuatl (Aztekensprache) stammende Begriff fast überall auf der Welt übernommen. Im Deutschen, im Französischen, im Spanischen, usw. heißt die Frucht “Tomate”.
Aber keine Regel ohne Ausnahme: Das alte Kulturvolk der Italiener hat den Tomaten einen eigenen Namen gegeben: Pomodori (“Goldäpfel”)
An diesem Beispiel erkennt man auch sehr schön die große Ähnlichkeit der romanischen Sprachen: “Goldäpfel”: ital.: pomodori - franz.: Pommes d’or.
Ausgesprochen ist die Ähnlichkeit noch größer: ital.: [Pommodori], franz.: [Pomdor]

Die sorgfältige Auswahl der Basiswörter wird umso wichtiger, je weiter man in der Geschichte zurückgeht. Der geringste Fehler bei der Zusammenstellung des Wortkorpus kann zu erheblichen Ungenauigkeiten führen.

So verbleiben nach 70 Jahrhunderten der Divergenz (Zeitpunkt der Abspaltung der zu untersuchenden Sprache von der Elternsprache bzw. vom Hauptstamm) gemäß der obigen Tabelle nur noch 12 % verwandte Wörter. so daß sich bei der Fehlanalyse auch nur eines einzigen Wortes ein Fehler von 300 Jahren ergeben würde.