Sinn der Wortendungen

Woher stammen eigentlich die Wortendungen, und welches ist ihr Sinn?
Und warum haben manche Sprachen keine (oder nur wenige) derartiger Endungen?

1.

Jeder, der Latein oder Altgriechisch gelernt (und sich bei der Konjugation mit den Wortendungen herumgequält) hat, wird sich über die große Anzahl der unterschiedlichen Wortendungen (mehrere Hundert !) gewundert und manches “Bandwurmwort” (z.B. lat.: appropinquavissem) verflucht haben.

Wer außerdem noch wenigstens eine moderne Fremdsprache spricht, wird bemerkt haben, daß die modernen Sprachen demgegenüber nur einen geringen Bruchteil der Deklinations- und Konjugationsendungen aufweisen. - Hierzu ein kleines Beispiel:

Die Entwicklung der Personalformen beim Verb
Tote Sprachen Lebende Sprachen
Sanskrit Alt- persisch Altgriech. Latein Althoch- deutsch Deutsch Englisch Dänisch Französ. Italienisch
dadami dadami didomi do gibu ich gebe I give jeg giver je donne io do
dadasi dadahi didos das gibis du gibst you give du giver tu donnes tu dai
dadati dadaiti didoti dat gibit er gibt he gives han giver il donne egli da
dadmas dademahi didomes damus gebamus wir geben we give vi giver nous donnons noi diamo
datta dasta didote datis gebet ihr gebt you give I giver vous donnez voi date
dadati dadenti didonti dant gebant sie geben they give de giver ils donnent essi danno
i (germanische Sprachen) (romanische Sprachen)

Man erkennt in dieser Tabelle sofort: Die Konjugationsendungen haben in den modernen Sprachen sehr stark abgenommen. Das englische Verb weist sogar nur noch eine Konjugationsendung auf (3. Pers. Sing.), das Dänische kommt sogar ganz ohne eine Endung aus!

Ãhnlich ist es im Französischen, wo es zwar noch 4 bzw. 5 Endungen gibt, aber nur 2 Endungen auch tatsächlich ausgesprochen werden (nur noch 1. und 2. Person Plural). Das Deutsche belegt in dieser Übersicht eine Mittelstellung.

Vergleicht man nun die modernen Sprachen (vor allem Englisch und Dänisch) mit den alten Sprachen, so erkennt man problemlos, daß die Konjugationsendungen dort eine wichtige Funktion erfüllt haben, jedoch bei den modernen Sprachen im Grunde überflüssig sind. Denn ihre damalige Funktion (nämlich die Person/en anzugeben, auf die sich die Aussage des Verbs bezieht), wird bei den modernen Sprachen von den Personalpronomen (“ich, du, er, ...”) erfüllt.

2.

Die Endungen haben somit in vielen europäischen Sprachen überhaupt keinen Sinn und keine Aufgabe mehr. Auch im Deutschen könnte man sicherlich (wie im Englischen und im Dänischen) sagen:”ich geben, du geben, usw.”, ohne daß der Sinn des Satzes darunter leiden würde.

Es wäre nur eine Frage der Gewohnheit. In unsereren beiden nördlichen Nachbarländern (England und Dänemark) haben sich die Menschen hieran im Laufe der Zeit ja schon gewöhnt. -

Vor allem aber:

Auch die deutsche Sprache hat ja im Laufe der Zeit schon mehrere (ursprünglich vorhandene) Personalendungen verloren, wie z.B. in der 1. und 3. Person Plural. Wir sagen ja schon lange nicht mehr (vgl. die obige Tabelle): ”wir gebamus” oder ”sie gebant”, sondern benutzen (wie die Engländer und die Dänen) bei diesen Formen nur noch den Infinitiv , also ohne die Endungen. - Ãhnlich machen es die Franzosen, die zwar noch mehrere Endungen schreiben, diese aber schon lange nicht mehr aussprechen.

Dies zeigt, daß die Personalendungen kein notwendiger Bestandteil eines Satzes sind, sofern etwas anderes ihre ursprüngliche Funktion übernimmt.

Und genau dies tun die sog. Personalpronomen (persönlichen Fürwörter), wie z.B. ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie.

3.

Aus dem Sinn der Personalendungen in den alten Sprachen ergibt sich nun auch relativ problemlos ihr Wesen. An den Beispielen der obigen Tabelle erkennt man:

Die Personalendungen, die in den alten Sprachen (z.B. Griechisch, Latein, usw.) die Funktion der nicht vorhandenen Personalpronomen erfüllt hatten, waren ursprünglich selbständige, dem Verb nachgestellte  Personalpronomen, also eigene Wörter!

Man hatte die Personalpronomen lediglich dem Verb nicht vorangestellt, wie es in den modernen Sprachen geschieht, sondern sie dem Verb nachgestellt!

4.

Die weitere Entwicklung ist klar: Als man im täglichen Sprachgebrauch den Verben im Laufe der Zeit eigene Personalpronomen voranstellte, verloren diese Endungen allmählich ihren Sinn. Es war natürlich nicht erforderlich, vor und hinter das Verb ein Personalpronomen zu setzen.

Die Endungen wurden daher zunächst nicht mehr gesprochen (wie heute im Französischen), und im weiteren Verlauf der Entwicklung auch nicht mehr geschrieben (wie im Dänischen und - mit Ausnahme der 3.Pers.Sing.Präs.- im Englischen).

Die Plausibilität dieses Ergebnisses läßt sich auch an parallelen Beispielen aus jüngster Zeit erkennen: So findet im Englischen gegenwärtig eine Entwicklung statt, wonach das vorangestellte Pronomen mit Hilfsverben verschmilzt:

I’m, you’re, he’s für I am, you are, he is

Dieser Prozeß dauert noch an. In spätestens 50 oder 100 Jahren (einer sprachgeschichtlich äußerst kurzen Zeit) wird man auch den Apostroph für den weggelassenen Vokal nicht mehr schreiben, so daß die ursprüngliche Herkunft dieser Wörter (aus einem Verb mit Pronomen) kaum noch zu erkennen sein wird.

5.

Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß es sich bei den Konjugationsendungen um frühere (nachgestellte) Personalpronomina handelt, die im Laufe der Entwicklung in vielen Sprachen verloren gegangen sind bzw. sich zumindest abgeschliffen haben, weil sie im Laufe der Zeit überflüssig geworden waren, als als sich ein Trend zu zusätzlichen (vorangestellten) Personalpronomina entwickelte.Dabei ist diese Entwicklung (Konjugations- und Deklinationsendungen wegfallen zu lassen) in den einzelnen Sprachen unterschiedlich weit gediehen,  wobei teilweise noch danach unterschieden wird, ob das Personalpronomen betont (also von besonderer Bedeutung) ist oder nicht.

Dies zeigt sich an verschiedenen modernen Sprachen, in denen die Entwicklung von der Konjugationsendung zum vorangestellten Personalpronomen unterschiedlich weit gediehen ist:

  1. Im Englischen ist der Fortfall der Endungen, wie dargelegt, weitgehend abgeschlossen (bis auf die 3. Person Sing.). Das Personalpronomen muß deshalb immer verwandt werden (weil man anderenfalls das Subjekt des Satzes nicht erkennen könnte).
  2. Ebenso ist es im Deutschen, wo das Pronomen im Normalfall ebenfalls nicht wegfallen darf.
  3. Ein Gegenbeispiel ist das Spanische, wo sich die Konjugationsendungen erhalten haben. Deshalb wird dort ein Personalpronomen nur ausnahmsweise (bei einem besonderen Bedarf) verwandt, nämlich bei einem Subjektwechsel oder bei der Betonung eines Gegensatzes.
Beispiel:  Soy - ich bin, yo - ich (betont). - Also:
Unbetont: Soy alemán (Ich bin Deutscher) - dagegen
Betont:  Mi mujer es inglesa, yo soy alemán (Meine Frau ist Engländerin, ich (hingegen) bin Deutscher.
(Vgl. übrigens die Ähnlichkeit von soy und yo mit dem lateinischen Ursprung: sum - ich bin, ego - betontes ich)


4. Auch im Niederländischen kommt es (wie im Spanischen) darauf an, ob das Personalpronomen betont ist oder nicht. Hier gibt es parallel verschiedene Pronomina, je nachdem, ob sie betont sind oder nicht.

Beispiel:: je - du (unbetont), jij - du (betont). - Also:
Unbetont: Wat bedoelt je? (WAS willst du?) - dagegen
Betont:  Wat bedoelt jij? (Was willst DU?)  

6.

Wie kommt es aber, daß man diese einleuchtenden Zusammenhänge (daß die Konjugationsendungen ursprünglich nachgestellte Personalpronomina waren) erst relativ spät erkannt hat, nämlich erst vor rund 160 Jahren? Wie kam es, daß man dies trotz intensivster Forschungstätigkeit (weit über 2.000 Jahre bzgl. der lateinischen Sprache und noch länger - schon zu Roms Zeiten - hinsichtlich der griechischen Sprache) nicht eher bemerkt hat?

Diese Frage ist mehr als naheliegend. Trotzdem habe ich in der diesseits verwandten  Fachliteratur hierzu keine Erklärungen gefunden. Vielleicht kann mir einer der Besucher dieser Seite weiterhelfen?

Am plausibelsten erscheint mir folgender Grund:

Bekanntlich gab es damals noch keine festen Grammatikregeln und vor allem noch keine Schrift , anhand derer man - z.B. durch Unterbrechung des  Schreibflusses - hätte erkennen können, wo ein Wort endet und wo ein neues beginnt

Sonst hätte die Forschung wahrscheinlich schon eher erkannt, daß es sich bei den Wortendungen (z.B.: -mi = ich) in Wirklichkeit um selbständige Wörter mit eigenen Bedeutungen (Personalpronomina) handelt.

Sämtliche griechischen und sogar noch ein Teil der lateinischen Texte (und natürlich alle noch älteren Texte) sind uns als laufender Text überliefert, also ohne irgendeine Worttrennung oder sonstige Hilfmittel (wie z.B. Groß- und Kleinschreibung, Interpunktion, o.ä) und zudem teilweise auch noch in verschiedenen Schreibrichtungen. Denn die Pausen zwischen den Worten haben erst die Römer eingeführt.

Das sah dann (wie bei einem Gesetzestext in Gortyn/Kreta) etwa so oder (wie bei einer Inschrift in Mykene, beides etwa 16. Jahrhundert vor Chr.) so aus.

Die Trennung in einzelne Wörter mußte erst mühselig vom Leser vorgenommen  werden. Es wurde (auch bei römischen Schriftstellern) erst nach Chr. Geburt üblich, in schriftlichen Aufzeichnungen die Wörter voneinander zu trennen.

Es ist also durchaus möglich, daß die Personalpronomina in der indogermanische Ursprache und den daraus hervorgegangenen Sprachen als einzelne Wörter gesprochen wurden.

Da es aber keine schriftliche Aufzeichnungen der Ursprache gibt und sogar die jüngste der toten Sprachen

(Griechisch - denn Latein galt bis in die Neuzeit nicht als tote Sprache)

ohne jede Worttrennung in einem  durchgehenden Satz geschrieben wurde, hat man erst in jüngster Zeit (erst Mitte des 19. Jahrhunderts!) erkannt, daß es sich bei den Wortendungen um selbständige Wörter mit einer eigenen Bedeutung handelt.

Wie gesagt, eine - wenn auch einleuchtende - Hypothese des Autors. Vielleicht kann ein fachkundigerer Besucher weiterhelfen?

8.

Die Gründe , die zum Wegfall der Zeitflexion (also der Personalendungen der Verben) führten, liegen auf der Hand:

Auch Sprachen stehen miteinander in Konkurrenz. Von Ausnahmen abgesehen wird sich meist diejenige  Sprache durchsetzen, die einfacher zu erlernen und zu sprechen ist. Von daher ist eine Sprache ohne Personalendungen und mit vielfältiger Benutzung von Hilfsverben naturgemäß gegenüber einem Flexionssystem im Vorteil.

Vermeiden ließe sich dies nur durch eine weitgehende Abschottung, was z. Zt. der Entstehung der alten Sprachen möglich war und zur Bildung der flektierenden  Sprachen beigetragen hat, jedoch heute auf Dauer kaum durchführbar ist. Jede kulturelle Berührung durch Handel, Eroberungen oder Völkerwanderungen führt zum  Kontakt mit anderen Sprachen.

Gerade die Geschichte des Griechischen und des Latein hat gezeigt:

Der internationale Verkehr zwingt Völker, die eine flektierende Sprache  sprechen,
jene Wörter einzuführen, die schließlich die Flexionen überflüssig machen.