Höflichkeitsformen: "Du" oder "Sie"?

Höflichkeitsformen haben (auch sprachlich) eine lange Tradition, nicht nur in unserem europäischen Kulturkreis, sondern weltweit. Offensichtlich gehört Höflichkeit zu den Universalien, die zur Natur des Menschen gehören.

1.

In praktisch allen Sprachen Europas kam im Mittelalter die Sitte auf, gegenüber Höhergestellten statt der normalen Anrede „Du“ die Mehrzahl „ir“, also unser „Ihr“ im Sinne einer Höflichkeits¬form zu verwenden. Ein wenig später (im 16. Jahrhundert) bürgerte es sich ein, den Gegenüber in der dritten Person anzureden, je nach Geschlecht also mit er oder sie. Diese Sitte hat sich bis in die heutige Zeit erhalten („Hat die Dame noch einen Wunsch?“, „Hat es dem Herrn geschmeckt?“).

Um die Höflichkeit auf die Spitze zu treiben, wechselte man im Laufe der Zeit in den Plural. Auf diese Weise bildete sich das heute noch gebräuchliche „Sie“. Und um die Ehrerweisung auch optisch zu betonen, schrieb man das „Sie“ in Großbuchstaben.

Die heutige Anredeform „Sie“ ist also nicht, wie viele glauben, die Mehrzahl des „Du“, also die 2. Person Plural, sondern vielmehr die 3. Person Plural, also die Mehrzahl von „er“ bzw. „sie“ (je nach Geschlecht). Die 2. Person Plural würde ja „Ihr“ heißen, wie es ursprünglich bei Hofe üblich war.

Im Französischen hat sich dies bis zum heutigen Tag erhalten. Die Höflichkeitsform wird dort mit der 2. Pers. Plural gebildet. Während es im Deutschen bspw. heißt: „Sie erlauben?“ (also 3. Pers. Plural), heißt es im Französischen „Ihr erlaubt?“ („Vous permettez?“).

2.

Der heutige Gebrauch von du und Sie richtet sich nach verschiedenen Kriterien, meistens nach dem Bekanntheitsgrad (Verwandte, Freunde, usw. werden geduzt, Fremde gesiezt). Aber dies war nicht immer so: Noch vor gut hundert Jahren war es üblich, daß großbürgerliche Kinder ihre Eltern mit „Herr Vater“ und „Frau Mutter“ anredeten.

In der gehobeneren französischen Gesellschaftsschicht ist dies noch heute üblich. In der Presse wurde berichtet, daß der französische Staats¬präsident seinen Vater heute noch siezt, und er sich von seinen Kindern siezen läßt.

Ebenso ist es in Holland, wie der 58 Jahre alte Louis van Gaal (ehemals Trainer beim FC Bayern München), in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" berichtete. Er läßt sich nicht nur von den Spielern, sondern auch von seinen Kindern siezen.

"Ich finde es gut, wenn ein Abstand da ist. Ich bin der Freund meiner Kinder und sie lieben mich. Aber ich bin eine andere Generation, das müssen sie wissen. Meine jüngere Töchter (31) hatte mit dem Siezen nie ein Problem, meine ältere schon. Jetzt ist sie 33 - und sie versucht selbst das Siezen! Ich denke, das ist gut".

Auch er selbst habe seine Mutter gesiezt, verriet van Gaal: "Das war damals in Holland üblich."

Auch Jacques Chirac, von 1995 bis 2007 Staatspräsident Frankreichs, siezt seine Eltern, aber auch seine Ehefrau, wie der Spiegel berichtete.

3.

Es gibt auch Mischformen, nämlich wenn der eine den anderen duzt, der andere ihn per Sie anredet. Dies ist altersbedingt etwa im Sprachumgang zwischen Kindern und Erwachsenen üblich oder früher beim Lehrer-Du und Schüler-Sie in der Schule. Auch im Berufsleben ist es teilweise üblich, daß in bestimmten Branchen Arbeiter geduzt werden und sie den Chef mit Sie anreden. Auch in Lehrverhältnissen war dies lange Zeit Gang und Gäbe.

Erhalten hat sich das solidarische Du der Arbeiterschaft aus der Zeit des Klassenkampfes und das Du der „Genossen“. Seit der 1968er Studentenbewegung ist das allgemeine Du in Kreisen der Studierenden üblich. Ferner gibt es ein „grünes Du“ der Ökologiebewegung und das Du unter Sportlern und in anderen Bereichen eines gemeinsamen Tuns.

4.

Angesichts dieser breiten Welle des Duzens titulierte die Bildzeitung in den 70er Jahren: „Opas Sie ist tot!“ Damit lag die Zeitung - wie so oft - allerdings etwas daneben: Die Tendenz zum Du hat im Deutschen nicht weiter um sich gegriffen, anders als in den skandinavischen Ländern, vor allem Schweden, wo alle Menschen sich duzen.

Daß auch die umgekehrte Entwicklung möglich ist, zeigt das Englische, wo im 17./18. Jahr¬hundert das „Du“ völlig verschwand und durch die Pluralform „Sie“ ersetzt wurde.

Das Englische „thou“ = „Du“, ist völlig aus dem Wortschatz verschwunden
und wurde durch das „you“ = „Ihr“ ersetzt.

Es ist somit, streng genommen, ein Irrtum, wenn immer wieder behauptet wird, daß sich alle Engländer und Amerikaner duzen würden. Das Gegenteil ist richtig. Denn die Du-Form („thou“) ist schon seit 200 Jahren aus dem englischen Wortschatz verschwunden. Das heutige You ist der Plural.

Streng genommen, siezt man sich in der englischen Sprache.

5.

Das Bemühen um Höflichkeit kommt auch in anderen Formen zum Ausdruck. So wäre es unhöflich zu sagen: „Ich und Du“. Im Volksmund heißt dies: „Der Esel nennt sich stets zuerst.“

Als besonders höflich gilt es also, den anderen hervorzuheben. Dies kann auch dadurch geschehen, daß man sich selbst in der Werteskala niedriger darstellt, sich im Extremfall am besten überhaupt nicht erwähnt:

Etwa im 19. Jahrhundert bürgerte sich die Sitte ein, in Briefen nach Möglichkeit das „Ich“ wegzulassen, vor allem am Satzanfang. Ein schönes Beispiel hierzu aus der Zeit der deutschen Klassik:

„Habe nun, ach! Philosophie studiert . . .“

läßt Goethe den Dr. Faust im Eingangsmonolog deklamieren.

6.

Auf der gleichen Ebene liegt die Sitte, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen das „Ich“ nach Möglichkeit zu vermeiden.

Dies treibt manchmal seltsame Blüten. Man kann fast von einem „Ich-Tabu“ sprechen: In wissenschaftlichen Werken von 100 oder 200 Seiten Umfang kommt manchmal kein einziges Mal das Wörtchen „ich“ vor. Und sollte es gar nicht zu umgehen sein, dann wird es umschrieben durch Worte wie „der Verfasser, Autor, Herausgeber, Referent, Rezensent, usw.“.

(Quelle: Willy Sanders, Was die Wörter uns verraten, Beck-Verlag, Kap. 4)

In der Wissenschafts- und Technik-Rubrik der FAZ sprechen die Autoren, um das „Ich“ zu vermeiden, immer in der „Wir“-Form, auch wenn der Artikel von einem einzigen Verfasser stammt.

7.

Zum Abschluß der Betrachtungen über das „Du“ und „Sie“ noch ein schönes Gedicht von Holger Münzer (1980):

Über das Duzen

Man duzt sich unter sich.
Man duzt sich auf dem Strich.
Man duzt sich bei der Liebe.

Es duzen sich die Diebe,
Schauspieler, Diplomaten,
die Maurer, Totengräber, die Soldaten.

Man duzt sich im "Miljöh"
- und in der SPD.

Man duzt auch alle Kinder.
Der Pfarrer duzt den Sünder.

Man duzt den lieben Gott
- und jeden, wenn er tot.

Man duzt sich nach dem 12. Bier.
Und Du - sagst besser »Sie« zu mir ...