Kindlicher Spracherwerb

Die Wissenschaft befaßt sich seit über 200 Jahren mit der Frage, wie Kinder ihre Erstsprache (Muttersprache) sprechen und verstehen lernen.

Denn schon der Erwerb der Muttersprache im Kindesalter ist ein Wunder: Dauert es doch im Regelfall viele Jahre, um eine Sprache zu erlernen und halbwegs perfekt zu sprechen.

Ein Kleinkind schafft dies dagegen - völlig problemlos - in einem Bruchteil der Zeit. Und dies in einer Entwicklungsphase, in der ein Kind noch nicht einmal die einfachsten geistigen Leistungen vollbringen kann, also bspw. noch nicht einmal die Zahlen 2 und 4 zusammenzählen kann, von dem kleinen 1 x 1 ganz zu schweigen.

Wir erleben dies tagtäglich. Es ist für uns ein normaler Vorgang. Aber wie erklärt sich dies?

1.

Und warum tun sich Menschen in einem späteren Lebensabschnitt so schwer, eine fremde Sprache zu erlernen, obwohl ihre geistigen Fähigkeiten dann um ein vielfaches höher sind? Wenn sie – um bei dem Beispiel aus der Mathematik zu bleiben – selbst die schwierigsten Rechenoperationen und sogar höhere Mathematik, bspw. Differentialrechnung und Integralrechnung beherrschen. Aber größte Schwierigkeiten haben, sich für einen Urlaub in Spanien wenigstens den Grundwortschatz und die einfachsten grammatikalischen Regeln des Spanischen anzueignen und anzuwenden?

Dagegen lernt jedes gesunde Kleinkind – und zwar unabhängig von Intelligenz und sozialem Umfeld! – seine Muttersprache in einem atemberaubenden Tempo perfekt. Ein System von Worten, Grammatikregeln, Verknüpfungen, Begriffen, Regeln, usw., das ungleich komplexer ist als jede Mathematik!

Und dann plötzlich (etwa mit 4 – 5 Jahren) beginnt diese Begabung plötzlich zu versiegen, so daß man später trotz großem Aufwand eine Fremdsprache nie wieder mit dieser Leichtigkeit lernt und schon gar nicht perfekt!

Und zu alledem ist das Tempo, mit dem ein Kind eine fremde Sprache erlernt, völlig unabhängig vom Schwierigkeitsgrad der Sprache. Ein Kleinkind lernt z.B. das Deutsche oder das relativ leichte Englisch ebenso schnell wie das Japanische oder wie eine der kaukasischen Sprachen, die als die schwierigsten Sprachen der Welt gelten, oder auch eine aus Knack- und Zischlauten bestehende afrikanische Sprache.

Und zwar ganz unabhängig davon, wer seine Eltern waren. Dies konnte man eindeutig bei Kleinkindern (insbesondere bei Zwillingen) nachweisen, deren Familien aufgrund von Kriegswirren auseinandergerissen wurden und die jeweils in völlig unterschiedlichen Kultur- und Sprachkreisen aufwuchsen. Beide lernten die Sprache ihrer jeweiligen Umgebung in dem gleichen atemberaubenden Tempo wie ihre mehrere Tausend Kilometer entfernten Geschwister eine völlig andere Sprache auf einem fremden Kontinent.

Dieses Phänomen kann man auch bei 2- oder gar 3-sprachig aufwachsenden Einwandererkindern erleben, die (wie z.B. im Fall eines befreundeten Restaurantbesitzers) gleichzeitig Deutsch, Italienisch, Rumänisch und Serbokroatisch (Jugoslawisch) lernen, also Sprachen, die wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben.

Und dies perfekt und mit einer vernachlässigbar geringen zeitlichen Verzögerung. Ohne Unterstützung durch Lehrbücher, Grammatiken, Lexika oder gar Sprachlabors. In einem Zeitraum von maximal 1 – 2 Jahren!

2.

All dies ist eine alltägliche Erfahrung, über die man sich kaum wundert oder gar Gedanken macht.

Dabei würde man viel eher erwarten, daß eine so schwierige Fertigkeit wie das Erlernen einer Sprache erst wesentlich später (bspw. erst am Ende der Pubertät) voll entwickelt wäre. So wie viele andere geistige und körperliche Fähigkeiten ja auch. Und man würde wohl auch erwarten, daß es – wie bspw. bei der Mathematik – große Unterschiede in der Beherrschung dieser Fertigkeit gibt.

Daß also manche Menschen grammatisch korrekt sprechen, während andere mit den Grammatikregeln ihre Probleme haben.

Aber nein: Alle Muttersprachler (wie auch diejenigen, die eine weitere Fremdsprache im Kleinkindalter erlernen) haben keinerlei Schwierigkeiten mit den chaotischsten Grammatikregeln. Auch der Sonderschüler beherrscht problemlos die schwierigsten Satzkonstruktionen. Wogegen selbst hochintelligente Ausländer Probleme haben, eine fremde Sprache halbwegs ordentlich zu erlernen.

Mit der Frage der Intelligenz hat das Erlernen einer Sprache somit nichts zu tun. Selbst wenig begabte Kinder erwerben das sprachliche Regelsystem perfekt. Die einzige Bedingung ist: Das Kind muß in dieser Phase (also etwa bis zum 4. oder 5. Lebensjahr) ausreichend Muttersprache (bzw. Zweit- oder auch Drittsprache) zu hören bekommen.

Aber wie „funktioniert“ das Erlernen einer Sprache?

3. Theorien des Spracherwerbs

Der Spracherwerb galt lange Zeit als Prozeß der Imitation bzw. Assoziation.

Danach ahmen Kinder also das nach, was sie in ihrer Umgebung hören. Diese Äußerungen werden dann durch Erwachsene bestätigt, korrigiert oder ins sonstiger Weise bewertet.

In den letzten Jahren ist jedoch deutlich geworden, daß sich damit nicht alle Faktoren der Sprachentwicklung erklären lassen. Kinder ahmen vieles nach, insbesondere beim Erlernen von Lauten und Wörtern, jedoch erklärt dies nicht ihre enorm hohen grammatikalischen Fähigkeiten.

Kommen sie nämlich z.B. mit unregelmäßigen Präteritumformen (wie oder rief) oder mit Pluralformen (wie Mäuse oder Äpfel) in Berührung kommen, so gibt es eine Entwicklungsphase, in der sie diese Formen durch regelmäßige ersetzen: eßte, rufte, Mause oder Apfeln.

Anscheinend gehen Kinder von der Regelmäßigkeit grammatikalischer Strukturen aus und versuchen herauszufinden, wie Formen „eigentlich“ lauten sollten – eine Vorgehensform, die man als Analogieprozeß bezeichnet.

Durch bloßes Hören und Nachahmen können Kinder diese Formen nicht erlernt haben: Kein Erwachsener benutzt Wörter wie eßte oder Apfeln !

Offensichtlich handelt es sich um die eigenständige Entwicklung einer „richtigen“ Wortform, also um einen komplizierten intellektuellen Vorgang, den Kinder schon im frühesten Alter - lange vor der Kindergartenzeit – entwickeln.

Versuche haben ergeben, daß Kinder auch dann bei der „falschen“ (d.h. eigentlich richtigen, weil regelmäßigen) Wortbildung blieben, wenn die „richtige“ Form ihnen mehrfach vorgesagt wurde.

Erst wenn die Mutter sie belehrte, daß die Wortform falsch sei, und sie anwies, es richtig zu sagen, benutzten sie die zutreffende Wortform (also z.B. bei unregelmäßigen Wortformen oder bei starken Verben).