Dialekt oder Sprache?
Eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme der Sprachwissenschaft ist die Frage, wie man Sprache und Dialekt hinreichend voneinander abgrenzen kann.
Die Antwort hierauf scheint einfach zu sein: “Es kommt darauf an, ob man den Anderen versteht.”
Denn wenn 2 Personen verschieden sprechen, gibt es im Grunde nur 2 Möglichkeiten.
- Entweder sie verstehen einander. - Dann wird es sich um 2 Dialekte der gleichen Sprache handeln.
- Oder sie verstehen einander nicht. - Dann werden es wahrscheinlich 2 verschiedene Sprachen sein.
Aber ist eine gegenseitige Verständlichkeit ausreichend?
Und ist sie umgekehrt auch erforderlich?
Das wichtigste Kriterium ist natürlich die gegenseitigen Verständlichkeit . Tatsächlich lässt es sich sehr häufig anwenden. So würde etwa beim Deutschen niemand ernsthaft bezweifeln, daß es sich um eine Sprache handelt.
Aber leider liegen die Dinge nicht immer so einfach.
- Manchmal glauben die Betreffenden, daß es sich (nur) um 2 Dialekte handelt, obwohl es sich um verschiedene Sprachen handelt. (kurz: vermeintlich Dialekt - tatsächlich Sprache)
- Umgekehrt werden oft Dialekte (aus nichtlinguistischen Gründen) als eigene Sprachen angesehen, obwohl es sich allenfalls um gesprochene Varietäten der gleichen Sprache, also um Dialekt handelt. (kurz: vermeintlich Sprache - tatsächlich Dialekt)
Beides hat meist historische oder politische Gründe.
- Und schließlich kommt es häufig vor, daß es sich tatsächlich um verschiedene Dialekte der gleichen Sprache handelt, und diese gleichwohl gegenseitig nicht verständlich sind. (kurz: Dialekte der gleichen Sprache, aber nicht gegenseitig verständlich)
(Zu diesen 3 Gruppen unten einige Beispiele)
Eine allgemein anerkannte Definition bzw. Abgrenzung zwischen Sprache und Dialekt, die für sämtliche Fälle gelten würde, hat sich bislang nicht durchsetzen können. Hierfür sind die vielen tausend Sprachen und noch weit mehr Dialekte zu vielschichtig und komplex.
Im wesentlichen hängt die Antwort auch davon ab, wie man die einzelnen Kriterien gewichtet, insbesondere welche Bedeutung man dem Erfordernis der gegenseitigen Verständlichkeit im Einzelfall beimißt. Hier ist im einzelnen vieles streitig.
Die wichtigsten Kriterien, ob es sich um eine Sprache oder (nur) einen Dialekt handelt, sind
- eine gegenseitige Verständlichkeit,
- die sich nach Möglichkeit mit der nationalen Identität deckt
- sowie (im Idealfall): der Verwendung einer standardisierten Schriftsprache und eines gemeinsamen literarischen Erbes
1. Beispiel: vermeintlich Dialekt - tatsächlich Sprache
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Chinesische. In China können sich die Sprecher verschiedener Dialekte mündlich nicht miteinander verständigen. Die einzelnen Sprachen und Dialekte weisen in Aussprache und Wortschatz derart große Unterschiede auf, daß z.B. zwischen einem Nord- und einem Südchinesen keine mündliche Verständigung möglich ist.
Die Unterschiede zwischen den chinesischen Sprachen und Dialekten sind (mindestens!) vergleichbar mit den Unterschieden zwischen den einzelnen romanischen Sprachen!
Da die chinesische Schrift dialektübergreifend ist, ist jedoch eine schriftliche Verständigung möglich. Ein schriftlicher Text kann somit in ganz China verstanden werden. Jedoch wird er so unterschiedlich ausgesprochen, daß er nicht verstanden werden würde, wenn er bspw. einem Nordchinese von einem Südchinesen nur vorgelesen würde.
Geht man also nur von der gesprochenen Sprache aus (legt man also nur das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit zugrunde), lassen sich die vielen Hundert Dialekte Chinas in 8 Hauptsprachen einteilen, die gegenseitig mehr oder weniger unverständlich sind. Da sie jedoch eine gemeinsame Schriftsprache haben und sich auf diese Weise miteinander verständigen können, wird das Chinesische (trotz der großen sprachlichen Unterschiede) von seinen Sprechern selbst (zu Unrecht) als eine einzige Sprache betrachtet.
2. Beispiel: vermeintlich Sprache - tatsächlich Dialekt
Die bekanntesten Konflikte treten auf, wenn die beiden erstgenannten Kriterien (gegenseitige Verständlichkeit und nationale Identität) nicht zusammenfallen.
Oft werden nämlich - meist aus historischen oder politischen Gründen - Dialekte als verschiedene Sprachen behandelt, obwohl es sich lediglich um gesprochene Varietäten derselben Sprache handelt.
Legt man bspw. nur das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit zugrunde, so gibt es nicht 5, sondern nur 2 skandinavische Sprachen, da sich die jeweiligen Sprecher dieser Gruppen recht gut miteinander verständigen können:
- Kontinental (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch) und
- Insular (Isländisch, Färöisch)
Zieht man jedoch nichtlinguistische, insbes. historische und politische Kriterien heran, sind es mindestens 5 verschiedene Sprachen: Norweger sprechen norwegisch, Dänen sprechen dänisch, usw. - In diesen Fällen verschmilzt die politische/nationale mit der sprachlichen Identität.
Es gibt viele ähnliche Fälle, in denen politische, ethnische, religiöse oder andere Gründe eine Aufteilung erzwingen, wo es sprachlich keine gibt: Hindi/Urdu, Flämisch/Niederländisch, Xhosa/Zulu, Serbisch/Kroatisch, usw.
Auch die umgekehrte Situation ist nicht selten: Fälle, in denen die gesprochenen Varietäten gegenseitig nicht verständlich sind, aber aus politischen, historischen, ethischen, religiösen oder kulturellen Gründen trotzdem als bloße Varietäten derselben Sprache bezeichnet werden.
Es gibt viele ähnliche Fälle, in denen politische, ethnische, religiöse oder andere Gründe eine Aufteilung erzwingen, wo es sprachlich keine gibt: Hindi/Urdu, Flämisch/Niederländisch, Xhosa/Zulu, Serbisch/Kroatisch, usw.
Auch in Mitteleuropa sind solche Konstellationen nicht selten. Beispielsweise steht das Niederländische dem Deutschen derart nahe, daß es normalerweise nur als Dialekt des Deutschen angesehen werden würde, wenn es nicht die Sprache eines eigenen Staates wäre. Daß das Holländische heute also - ganz allgemein - als eigene Sprache betrachtet wird, hat somit keine sprachwissenschaftlichen, sondern historisch/politische Gründe.
Sehr deutlich sieht man diese Zusammenhänge auch am bayerischen Dialekt. Das Bayerische ist (sprachwissenschaftlich gesehen) mindestens so sehr (oder so wenig) “Sprache” wie das Niederländische. Wenn man das Bayerische - anders als das Niederländische - gleichwohl nur als Mundart bzw. Dialekt betrachtet, so hat dies seinen Grund darin, daß Bayern politisch nur einen Teil Deutschlands darstellt. Falls Bayern im Verlauf seiner jüngeren Geschichte zu einem eigenen Staat geworden wäre, so würde man das Bayerische heute mit ziemlicher Sicherheit als Sprache - und nicht als deutschen Dialekt - ansehen.
Die vorliegende Fallgruppe ähnelt (wegen des politisch-nationalen Einschlags) der oben unter 1.) dargestellten umgekehrten Situation, bei der die gesprochenen Varietäten (z.B. des Chinesischen) gegenseitig nicht verständlich sind, aber aus politischen, historischen, ethischen, religiösen oder kulturellen Gründen trotzdem als bloße Varietäten derselben Sprache bezeichnet werden.
3. Beispiel: Dialekte der gleichen Sprache, aber nicht gegenseitig verständlich
Daß das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit nicht das einzige (und oft nicht einmal das wichtigste) Merkmal für eine Anerkennung als “Sprache” ist, zeigt sich auch an den Dialekten untereinander.
Ein häufiges Problem bei der Anwendung dieses Kriteriums besteht nämlich darin, daß Dialekte, die zur selben Sprache gehören, in ihrer gesprochenen Form nicht immer gegenseitig verständlich sind.
Dieses Phänomen hat nichts damit zu tun, daß regionale Dialekte untereinander schlecht (oder auch gar nicht) verständlich sind.
So kann es z.B. für einen Südengländer äußerst schwierig sein, einige der regionalen Dialekte Nordirlands oder Schottlands zu verstehen. Und wenn ein Engländer mit Sprechern des Englischen aus anderen Ländern, z.B. Asiens korrespondiert, mag der Grad der Verständlichkeit u.U. noch geringer sein.
Doch letztlich haben alle diese Sprecher eines gemeinsam: ihre Schriftsprache. Dementsprechend könnte man die von ihnen gesprochenen Varietäten mit Recht als Dialekte derselben Sprache bezeichnen.
Wesentlich schwieriger ist die Abgrenzung Dialekt/Sprache in den Fällen eines geographischen Dialektkontinuums:
Oft wird innerhalb eines bestimmten Gebietes eine “Kette” von Dialekten gesprochen. Die Sprecher eines bestimmten Dialekts an einem beliebigen Punkt der Kette sind ohne weiteres in der Lage, den etwas anderen Dialekt ihrer unmittelbaren Nachbarn zu verstehen. Mit anderen, auf der Kette weiter von ihnen entfernten Dialekten haben sie bereits Schwierigkeiten, und der Dialekt der Menschen, die am weitesten von ihnen entfernt leben, könnte für sie völlig unverständlich sein.
Die Sprecher der Dialekte an den Endpunkten eines Kontinuums verstehen einander also nicht, obwohl sie durch eine Kette der gegenseitigen Verständlichkeit miteinander verbunden sind.
Dieser Situation begegnen wir sehr häufig. Ein ausgedehntes Kontinuum verbindet sämtliche Dialekte der Sprachen, die wir als Deutsch, Niederländisch und Flämisch kennen. Sprecher aus der Ostschweiz können Sprecher aus Ostbelgien nicht verstehen; dennoch sind sie durch ein Band gegenseitig verständlicher Dialekte, das sich durch die Niederlande, Deutschland und Österreich zieht, miteinander verknüpft.
Weitere solche Ketten in Europa sind beispielsweise das westromanische Kontinuum, das ländlich Dialekte des Portugiesischen, Spanischen, Katalanischen, Französischen und Italienischen umfaßt, und das nordslawische Kontinuum, das Slowakisch, Tschechisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch verbindet.
Das Problem ist klar: An welchem Punkt der Kette läßt sich sagen, daß eine Sprache aufhört und die nächste anfängt?
Mit anderen Worten: Auf welcher Grundlage können wir Trennlinien zwischen Portugiesisch, Spanisch, Französisch, usw. ziehen?
Wir sind es gewohnt - und machen uns hierüber meist gar keine Gedanken -, diese Sprachen als völlig verschieden anzusehen. Aber dies kommt nur daher, weil wir meistens nur ihre gegenseitig nicht verständlichen Hochsprachen (Standardvarietäten) kennenlernen. Aber auf lokaler Ebene ist eine klare Trennung nach sprachlichen Kriterien nicht möglich.
So wird der französische Weinbauer nahe der italienischen Grenze keine Schwierigkeiten haben, seinen italienischen Kollegen 80 km östlich problemlos zu verstehen, obwohl er vielleicht kein Wort italienisch und der italienische Kollege kein Wort französisch spricht. - Ähnlich ist es (vgl. oben) an der niederländischen Grenze.
Natürlich zieht man dennoch Trennlinien - aber nach anderen Kriterien. Überquert man eine seit langem bestehende Landesgrenze, so wechselt die Sprachvariante ihren Namen: “Niederländisch” wird zu “Deutsch”, “Spanisch” zu “Portugiesisch”, “Schwedisch” zu “Norwegisch”. - Man muß sich jedoch stets vor Augen halten, daß dies keine linguistische, sondern ausschließlich historische und politische Gründe hat.
Man sieht hieran: Es ist äußerst schwierig, im Einzelfall festzulegen, ob es sich (noch) um einen Dialekt oder (schon) um eine Sprache handelt.