Entwicklung der Schrift

Sämtliche Schriftsysteme der Welt sind letztlich aus Piktogrammen (also aus stilisierten Abbildungen) hervorgegangen.

1. Änderungen in der Darstellungsweise

Dabei verloren die Zeichen im Laufe der Zeit - aus mehreren Gründen - ihre Ähnlichkeit mit den Objekten, die sie ursprünglich darstellen sollten.

Gründe hierfür waren einmal das flüssigere, schnellere Schreiben (man vergleiche nur die heutige eigene Handschrift mit der Schrift, die man vor vielen Jahren in der Schule gelernt hat), daneben vor allem aber die Besonderheiten der verwendeten Schreibmaterialien.

So eignet sich z.B. Ton sehr schlecht, um in ihm bspw. Kreise, Kurven, u.ä. zu zeichnen. Aus diesem Grunde war man im Laufe der Zeit dazu übergegangen, Kreise oder Halbkreise durch mehrere gerade Linien zu ersetzen.

Die Entwicklung von gegenständlichen Zeichnungen hin zu immer abstrakteren Formen läßt sich an dem reichlich vorhandenen Tonmaterial sehr gut verfolgen. Der Grad der Abstraktheit bildet sogar ein wichtiges Hilfsmittel bei der Bestimmung des Alters eines in Keilschrift verfaßten Schriftstücks.

Bei der Wahl der Piktogramme hielt man sich zunächst genau an den Gegenstand, um den es ging. So zeichnete man bspw. ein Brot, um dieses Lebensmittel darzustellen. Oder z.B. den Kopf eines Rindes , um dieses Tier zu bezeichnen (vgl. das Beispiel in Abb 1).

Das zweite Beispiel (Abb. 2) zeigt die Entwicklung des Zeichens für Frau (weibl. Schambereich mit Scheide).

Auch heute verwendet man noch viele derartige Piktogramme, und zwar sowohl im täglichen Leben als auch in der Wissenschaft, usw. Sie zählen zu Tausenden und sind aus unserem Leben überhaupt nicht mehr fortzudenken.

Diese beschränkten Darstellungsmöglichkeiten genügten zunächst auch vollkommen, da es den Schreibern in diesem Zeitraum nur um kaufmännische Zwecke ging, also Waren zu erfassen, Lieferungen zu berechnen, Archive zu katalogisieren, usw. Hierfür reichte es aus, diejenigen Gegenstände, die man vor sich sah, abzuzeichnen. Über das für ein Rechnungswesen außerdem erforderliche Zahlen- und Rechensystem verfügte man ohnehin schon seit langem.

2. Erweiterung auf ähnliche Bedeutungen

Mit fortschreitender zivilisatorischer Entwicklung stiegen jedoch auch die Anforderungen an eine “Schrift”.

  • Ab einem bestimmten Zeitpunkt entstand sicherlich das Bedürfnis, die fragliche Ware näher bezeichnen (also nicht nur die Anzahl der Rinder, sondern auch Angaben zum Geschlecht, zum Alter, ob trächtig oder nicht, usw.).
  • Oder man wollte der Rechnung einen Begleittext beifügen, wollte gegenüber dem entfernt wohnenden Verkäufer einen Brief mit irgendwelchen Mängelrügen schicken, o.ä.
  • Oder der Herrscher wollte seinen Statthaltern in den abgelegenen Städten seines Reiches irgendwelche Anordnungen zukommen lassen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Diesen gestiegenen Anforderungen genügt die vorhandene archaische Schrift natürlich bei weitem nicht. Jedoch entwickelten die Schreiber im Verlauf der weiteren zivilisatorischen Entwicklung eine unglaubliche Phantasie.

In einem ersten Schritt benutzte man das Zeichen für den Gegenstand auch für die entsprechende Tätigkeit, also beispielsweise das Zeichen für “Bein” auch für “gehen” und das Zeichen für “Mund” auch für das, was man mit dem Mund macht (z.b. essen, reden).

Dabei entwickelten die Schreiber eine bemerkenswerte Phantasie, um auch abstrakte Begriffe auszudrücken. Sie fügten Deutzeichen (Determinativa) bei oder kombinierten verschiedene Logogramme miteinander, um ihnen einen neuen Sinn zu geben, der sich anders nicht ausdrücken ließ.

Vgl. hierzu nochmals das obige Beispiel:

Die 2. Abbildung (Schambereich mit Scheide) bedeutet “Frau”,

Beim 3. Beispiel kommen 3 Zeichen für Berg (3 Berge = Gebirge) hinzu.

Das Gesamt-Piktogramm in Abbildung 3 ist als “fremde Frau” (Frau + Gebirge = fremde Frau) zu verstehen.

Trotzdem stieß man bei der Suche nach einer funktionsfähigen Schrift bald an eine systembedingte Grenze, und zwar unter 3 Gesichtspunkten:

Zum einen waren die Piktogramme zwangsläufig mehrdeutig. So könnte das vorstehende Beispiel (“fremde Frau”) ohne weiteres bspw.auch bedeuten: “die Frau befindet sich im Gebirge” oder “die Frau will ins Gebirge gehen”.

Außerdem ließen sich viele abstrakte Begriffe (z.B. ehrenhaft, intelligent, verschlagen, usw) und vor allem so wichtige Sprachbestandteile wie Präpositionen, Flexionsendungen, usw. mit ihnen überhaupt nicht ausdrücken.

Und schließlich ist es bei Piktogrammen erforderlich, daß dem “Leser” der Sinn bzw. Kontext bekannt sein muß. Denn nicht sehr häufig ergibt sich der Sinn nicht zwangsläufig aus dem abgebildeten Zeichen.

Verkehrsschild Bauarbeiten

Hierzu ein Beispiel: Das Verkehrsschild "Vorsicht, Bauarbeiten" (dreieckig, roter Rand).

Die Bedeutung dieses Piktogramms ist uns natürlich bekannt. Allerdings nur, weil wir die Bedeutung irgendwann einmal gelernt haben.

Ein Leser aus einer anderen Zeit oder einem anderen Kulturkreis (Bergdorf im Kaukasus, Insel in der Südsee) würde das Zeichen vielleicht ganz anders deuten:

  • Ein Mann gräbt
  • Ein Mann stemmt sich gegen einen Erdrutsch
  • Er beseitigt den Erdrutsch
  • Oder ist es vielleicht jemand, der an einem windigen Tag einen Regenschirm öffnen will?

Der Autofahrer von heute kennt natürlich die Bedeutung des Verkehrsschildes. Betrachten wir aber 5000 Jahre alte Piktogramme, ist der Kontext sehr oft nicht mehr ohne weiteres ersichtlich.

Die vielen nicht entschlüsselten oder nur teilweise entschlüsselten piktographischen Schriften des alten Kreta lassen das Ausmaß des Problems erahnen (vgl. den Diskos von Phaistos).

Hier sehen Sie eine Animation zur Entwicklung der Schrift vom Piktogramm zur sumerischen Keilschrift (von R. Fradkin):

3. Phonetisierung

Vor dem Hintergrund dieser Probleme (Mehrdeutigkeit und unzureichende Ausdrucksmöglichkeiten) begann etwa um 3000 vor Chr. eine einzigartige Entwicklung:
Die Schreiber lösten sich im Laufe der Zeit von der ursprünglichen Bedeutung des Gegenstandes und verwandten statt dessen seinen Lautwert. So verwendeten sie das sumerische Piktogramm für “Pfeil” (ti) nun auch, um den Begriff für “Leben”, das ebenfalls ti ausgesprochen wird, wiederzugeben.

Am Anfang einer jeden wirklichen Schrift steht also immer die Phonetisierung.
Außerdem entdeckten sie das Prinzip des Rebus und wandten es auf die Schrift an.

Zur Erinnerung ein Beispiel aus dem Deutschen:

hinzufügen: Bedeutung:  
  Bewunderung, o.ä. a
u Schmerzensschrei au
s Ende, fertig aus
h Ungeziefer Laus
k Vornamen Klaus
e Raum Klause

Oder ein komplexeres Beispiel:

Das Bild von Sand und das Bild einer Ahle stehen nunmehr für das Kleidungsstück “Sand-Ahle”, also für “Sandale”.

Die Schreiber in Sumer haben damit etwas Entscheidendes, Bahnbrechendes geleistet: Die Schrift kann jetzt nicht nur körperliche Gegenstände und daraus abgeleitete einfachste Begriffe ausdrücken. Nein - sie kann jetzt jeden Begriff und jeden noch so abstrakten Gedankengang, den man sprechen kann, nun auch schriftlich niederlegen!

Juristische Gesetzbücher,
wissenschaftliche Abhandlungen
oder literarische Kunstwerke:
Von jetzt an kann die Schrift alles festhalten!